Mehr als nur eine Flagge: Berlins queere Geschichte und die leere Stange am Reichstag

Bundestag Pride

Eine Fahnenstange vor dem Reichstagsgebäude wird zum Symbol einer hitzigen Debatte, die tief in die deutsche Geschichte reicht. Die Entscheidung der Bundestagspräsidentin Julia Klöckner (CDU), zum Christopher Street Day (CSD) die Regenbogenflagge nicht zu hissen, ist mehr als eine administrative Anordnung. In Berlin, einer Stadt mit einer einzigartigen, schmerzhaften und stolzen LGBTQ+-Geschichte, wird dieser Akt als geschichtsvergessen kritisiert und wirft eine fundamentale Frage auf: Versteht die Politik die Bedeutung ihrer eigenen Symbole?

Berlins Erbe: Vom Zufluchtsort zum politischen Kampf

Um die heutige Kontroverse zu verstehen, muss man die Vergangenheit Berlins kennen. In den 1920er Jahren war die Stadt ein globaler Leuchtturm der Freiheit, ein Zufluchtsort für queere Menschen und die Heimat von Magnus Hirschfelds bahnbrechendem Institut für Sexualwissenschaft. Diese blühende Kultur wurde von den Nationalsozialisten brutal zerschlagen, Hirschfelds Bücher verbrannt und homosexuelle Menschen unerbittlich verfolgt.

Genau aus dieser Asche erhob sich der Berliner CSD. Als am 30. Juni 1979 die erste Demonstration unter diesem Namen stattfand, war sie kein fröhlicher Karneval, sondern ein Akt des politischen Protests. Inspiriert von den Stonewall-Aufständen, aber geprägt von der eigenen deutschen Geschichte, kämpften die Demonstrierenden gegen den Paragraphen 175 und für die Sichtbarkeit, die ihnen so lange verwehrt worden war. Der Berliner CSD war von der ersten Minute an politisch – seine Existenz ist eine politische Forderung nach Menschenrechten.

Klöckners Neutralität in einem historisch aufgeladenen Raum

Vor diesem Hintergrund wirkt die offizielle Begründung für die aktuelle Entscheidung besonders befremdlich. Klöckners Büro argumentiert, das Parlament müsse „politische Neutralität“ wahren, und der CSD stelle zu „konkrete politische Forderungen“. Diese Argumentation ignoriert, dass die Anerkennung der CSD-Bewegung eine Anerkennung des historischen Kampfes um Gleichberechtigung ist – ein Kernwert, der für ein demokratisches Parlament alles andere als neutral sein sollte. Die Geste der Solidarität in den Vorjahren, die Flagge zu hissen, war ein Symbol der Versöhnung mit der eigenen Geschichte. Die jetzige Kehrtwende wirkt wie eine Distanzierung von diesem Erbe.

Der Protest hallt durch die Geschichte

Die Reaktion im Parlament selbst war ebenso symbolträchtig. Abgeordnete der Grünen und der Linken, die in Regenbogenfarben gekleidet im Plenarsaal erschienen, setzten nicht nur ein aktuelles politisches Zeichen. Ihr stiller Protest steht in direkter Tradition der sichtbaren Unbeugsamkeit, die den Berliner CSD seit 1979 auszeichnet. Sie trugen den Geist der Demonstration dorthin, wo er äußerlich verbannt wurde: ins Herz der Demokratie. Kritiker sehen in Klöckners Vorgehen zudem eine gefährliche Annäherung an die „Kulturkämpfe“ nach US-Vorbild, bei denen die Spaltung durch Symbolpolitik über den Dialog gestellt wird – eine Taktik, die dem deutschen Konsensgedanken fremd sein sollte.

Eine Entscheidung ohne Gedächtnis

Die Entscheidung, die Regenbogenflagge am CSD nicht zu hissen, ist in Berlin keine neutrale Handlung. Es ist eine Entscheidung, die die lokale Geschichte ignoriert. Sie verkennt die Bedeutung eines Symbols, das hier nicht nur für eine Party steht, sondern für den Sieg über Verfolgung, für die Erinnerung an zerstörte Lebenswerke und für das Versprechen, dass sich die dunkelsten Kapitel der Stadtgeschichte niemals wiederholen dürfen. In einer Stadt, deren Freiheit auf den Trümmern der Intoleranz aufgebaut wurde, ist das Senken dieser Flagge mehr als nur das Einholen eines Stücks Stoff. Es ist das Leiseschalten einer wichtigen Erinnerung.